Was passiert, wenn wir BewohnerInnen des Guts Mydlinghoven in netter Runde zusammensitzen? Wir lassen unseren Träumen, unseren Wünschen für ein Leben auf Gut Mydlinghoven freien Lauf. Noch vor Einzug verliefen solche Gespräche in etwa so: Jemand sagte: „Wir brauchen auf jeden Fall einen schönen Kräutergarten“ – ein anderer meint: „Ja! Und Spielplätze für die Kleinen!“ – „Eine Feuerstelle“ – „Einen Zeltplatz“ – „Freiraum für unsere Vierbeiner.“ – usw. Viele Dinge kamen so zusammen. Es hätte aber auch ganz anders verlaufen können: „Das könnte schwierig werden. Das Gut liegt in einem Naturschutzgebiet und es gibt strenge behördliche Auflagen.“ – „Tiere, Kinder, Feuerstelle? Nein, das geht nicht.“ – „In die Natur darf nicht eingegriffen werden.“
Da ist er: Der Naturschutz als Zwang, als Einschränkung unserer Freiheit. Auch wenn es solche Gespräche in dieser Form nicht wirklich gegeben hat, ist es ein guter Anlass, einmal darüber nachzudenken, was es eigentlich heißt, natürlich leben zu wollen, im Einklang mit der Natur, Nachhaltigkeit praktizieren zu wollen, um’n diesen schönen Ort, der unser aller Zuhause ist, so zu erhalten.
Bedeutet es, dass wir uns Dinge wie den Kräutergarten, freilaufende Katzen, spielende Kinder oder die Feuerstelle verbieten müssen? Was bedeutet es überhaupt, im Einklang mit der Natur zu leben und die Natur zu schützen? Wann fängt Natur an, wo hört Vom-Menschen-Gemachtes auf und bedeutet „Im Einklang mit der Natur zu leben“ nicht gerade, dass man diesen Gegensatz irgendwie auflöst?
Auch wenn wir die rechtlichen Bestimmungen zum Naturschutz häufig als einengend und begrenzend wahrnehmen, ist es doch interessant, welcher Naturbegriff und welches Verständnis von Naturschutz sich hinter den Gesetzestexten zu verbergen scheinen. Das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) beginnt damit, die Natur als schützenswert auszuzeichnen, weil sie einen eigenen Wert hat und weil sie die Grundlage für Gesundheit und Leben des Menschen darstellt. Hier klingt ein zentraler Gedanke von Hans Jonas an: In seinem Buch „Das Prinzip Verantwortung“ (1973) behauptet der Vordenker der Nachhaltigkeits- und UmweltBewegung, dass eine intakte Umwelt konstitutiv für ein „echtes“ Menschenleben ist. Die Natur zu schützen bedeutet im rechtlichen und behördlichen Kontext in erster Linie, Lebensräume zu bewahren und die ihnen eigenen Artenvielfalt, Eigenart und Schönheit zu erhalten.
Im Falle von Naturschutzgebieten erfordert dies, die Lebensräume vor solchen menschlichen Eingriffen zu schützen, die zur Zerstörung, Beschädigung oder auch nur Veränderung des Lebensraums führen. Zwar werden Naturschutzgebiete nicht als abgeschlossene Räume verstanden, in dem Menschen nicht erwünscht sind, aber „Bewahrung“ des von der Natur Gegebenen bedeutet aus rechtlicher Perspektive konkret folgendes:
- Naturlandschaften und historisch gewachsene Kulturlandschaften, auch mit ihren Kultur-, Bau-und Bodendenkmälern, vor Verunstaltung, Zersiedelung und sonstigen Beeinträchtigungen zu bewahren.
- Zum Zweck der Erholung in der freien Landschaft nach ihrer Beschaffenheit und Lage geeignete Flächen vor allem im besiedelten und siedlungsnahen Bereich zu schützen und zugänglich zu machen.
Nichts anderes wollen wir. Die Natur genießen, in und mit ihr Leben. Nich gegen sie. „Natürlich gemeinsam“ trifft auf uns als Gemeinschaft, auf uns als BewohnerInnen des Gut Mydlinghoven im schönen Hubbelrather Bachtal zu.
Wie funktioniert so ein nachhaltiges Leben in gegenseitiger Achtung voreinander? Reicht es nicht, an mein Wohlbefinden zu denken? Erstens übernehmen künftige Generationen auch keine Verantwortung für uns, und zweites nimmt keine konkrete Person unmittelbar Schaden an unseren heutigen Handlungen.
Seit dem Jahr 1979, als der Philosoph Hans Jonas (1903-1993) den Entwurf einer „Ethik für die technologische Zivilisation“ verfasste, gehört die Frage, wieso nicht nur ökonomische, sondern auch moralische Gründe für eine nachhaltige Lebensweise sprechen, zu den wichtigsten Themen der zeitgenössischen Ethik. Dabei ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ ursprünglich übrigens nicht ethischer Natur. Er stammt aus der Forstwirtschaft. Geprägt hat ihn dort ein Mann namens Hans Carl von Carlowitz (1645-1714), ein sächsischer Adelssprössling, der sich als Oberberghauptmann des Erzgebirges um die heimischen Wälder sorgte. In seinem Leitfaden „Sylvicultura oeconomica“ fordert er „eine kontinuierliche beständige und nachhaltende Nutzung“ der Holzressourcen, die im Prinzip darin besteht, nicht mehr Bäume zu fällen als nachwachsen können. Dadurch sollen die Wälder erhalten bleiben und die Bevölkerung langfristig mit Brennstoff und Baumaterial versorgt werden. Er sah es auch als moralisch geboten an, die Rohstoffe der Erde nicht bis zur Erschöpfung auszubeuten, sondern ein symbiotisches Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt herzustellen. Insofern war Carlowitz ein Wegbereiter unseres modernen Nachhaltigkeitsbegriffs. Zwar wird dieser inzwischen äußerst vielfältig verwendet und interpretiert, doch die Definition orientiert sich meist an der Formulierung aus dem Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, dem sogenannten Brundtland-Bericht von 1987. Darin heißt es, nachhaltig sei eine Entwicklung, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen.“
Betrachtet man unser Projekt unter diesem Aspekt, eben „die Möglichkeiten künftiger Generationen nicht zu gefährden“, dann ist doch alles klar, oder nicht? Wir übernehmen Verantwortungfür das Gut, seine Umgebung und dessen BewohnerInnen.
Verantwortung ist, insbesondere seit der Aufklärung stark an die Idee der menschlichen Freiheit gekoppelt. Immanuel Kant (1724-1804) stellte das Individuum als autonomes Subjekt in den Fokus seiner Ethik. Sein berühmter Kategorischer Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxim, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde“) sollte die ultimative Handlungsregel für moralisches Verhalten sein, die ihren Ursprung in der Freiheit des Menschen hat, sich selbst ein Gesetzt zu geben.
Ist Naturschutz also eine Einschränkung unserer Freiheit oder ist es unserer Freiheit, Verantwortung für all das zu übernehmen?
Wir sollten die Natur als „Gemeineigentum der Menschheit“ ansehen: „Sie verhält sich wie ein Kapital, von dessen Zinsen jede Generation leben darf, ohne das Kapital selbst anzutasten“, sagt der Tübinger Philosoph Otfried Höffe, der aus gerechtigkeitstheoretischer Perspektive argumentiert.
Ein Kräutergarten? Feuerstelle? Freiräume für Kinder, Tiere und uns? Es muss kein Widerspruch sein. Das Kapital nicht antasten, aber es im Rahmen der Möglichkeiten anreichern, um künftigen BewohnerInnen ein Fundament zu bereiten, es uns gleich zu tun.
“Natürlich gemeinsam“, so kann es gelingen.